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Das Regelwerk der Natur –
ein Ornament

Pflanzen, Insekten, Fische, Säugetiere und manchmal sogar der Mensch finden Eingang in das Werk Nicole Bellaires. Der Eindruck des sich im Zweidimensionalen abspielenden Oeuvres ist auf den ersten Blick vielgestaltig: Energiesprühende zarte Zeichnungen auf Transparentpapier, ornamental flächige Holzschnitte und spielerisch lyrisch anmutende Collagen. Des Weiteren locker gestaltete Blätter, die an Telefonkritzeleien erinnern. Nicole Bellaire beobachtet Form- und Verhaltensprinzipien in der Natur und bedient sich verschiedener grafischer Techniken.

Mit der Zeichnung, oftmals auf Transparentpapier, sucht und erfindet sie die innere Psychologie der Natur. In der Serie „Insekt“ (7-teilig, 2008) versucht die Künstlerin Vorgänge in einer Schmetterlingspuppe ohne Kenntnis des Inneren nachzuvollziehen. Die Schönheit der äußeren Form und die Faszination für den verborgenen Prozess spiegelt sie in sieben Blättern, welche Auflösung, Energie, Transformation und Neuwerdung zugleich thematisieren. Ihr kurzer, feiner, kratzender Zeichenstrich wirkt wie Funkenschlag. Dynamische Linien und Flächen erinnern an die Zeichensprache in Architektur oder Comic. Das Objekt, die Linie, der Strich – sie alle schweben scheinbar vor dem Bildgrund, rotieren im virtuellen Raum der Zeichnung. Die Überlagerung von Transparentpapier und blauem Hintergrund schaffen einen diffusen Raumeindruck. Ähnliches ist bei „Disteln im Wind“ (5-teilige Serie, 2012), den „Fliegenden Formen“ (3-teilig, 2007) oder den „Samenkapseln“ (5-teilig, 2012 ) zu beobachten. Letztere sind biomorphe Erfindungen der Künstlerin. In einer für sie eher untypischen Buntheit verbinden sich hier vegetative Formen zu eigenständigen vegetabilen Wesen. Die Kapsel- und Kelchformationen klaffen, schäumen, gluckern, mäandern und senden Widerhaken aus. Faszinierend, komisch oder beängstigend – jedes Blatt dieses Merians findet einen anderen Erzählton.

Die Strategie der Kombinatorik wendet Bellaire auch in anderen Techniken an. Ihre Collagen verbinden Zeitungsausschnitte mit Restmaterial aus Vorstudien und Materialproben. Die Künstlerin schneidet, reißt, übermalt, überklebt; sie kratzt und kritzelt. Spielerisch arbeitet sie sich an eine Endform, welche sich fast wie ein japanisches Haiku liest: ,Rotes Linienwerk. Der Fisch wachen Auges. Senkrecht und stumm im weißen Farbdunst gefangen.‘ So oder so ähnlich könnte man die abgebildete Collage „Ohne Titel“ (aus einer 15-teiligen Serie, 2009) in Worte übersetzen.

Im Holzschnitt hat Nicole Bellaire eine grafische Technik gefunden, in der all ihre Interessen rund um die Naturform kulminieren. Im Gegensatz zur Zeichnung, welche der Versuch der Hand ist, der Vorstellung des inneren Auges zu folgen, ist der Holzschnitt ein Abklatsch dessen, was über mehrere Stufen der Abstraktion aus einer ersten Imagination geworden ist. Im Holzschnitt müssen Formvorbilder zwangsweise einen Weg der grafischen Vergröberung gehen. Das Bearbeiten des Holzstocks ist kraftaufwendig. Die Differenzierung des Strichs gelingt in Breiten nicht in Farbstärken. Der Umdruck liefert ein spiegelverkehrtes Negativbild. Der Hochdruck gestaltet Fläche im Verhältnis zur Linie. Im Laufe des Arbeitsprozesses wird im Holzschnitt die farbtragende Fläche reduziert. In der Zeichnung verhält sich dies umgekehrt. Nicole Bellaire arbeitet in mehreren Druckschichten. „Zaubergarten“ (4-teilig, 2012), „Schattenspiel“ (5-teilig, 2008) und „Muster & Ornament“ (13-teilig, 2009) wurden unter Anwendung des Reduktionsholzschnitts ausgeführt, sind also Unikate. Aber auch alle anderen Drucke Bellaires sind nicht als Auflagen angelegt. Vielmehr interessiert sich die Künstlerin wiederum für Fragen der Kombinatorik und Komposition sowie den Prozess. Das Regelwerk der Natur als Ornament scheint ihr Thema.

Nicole Bellaire setzte sich in Theorie und Praxis intensiv mit dem Sujet von Muster und Ornament in der zeitgenössischen Kunst auseinander. Von jeher haftet jenen der Dünkel des Kunsthandwerks und des geschmäcklerischen Dekors an. Andererseits ist die Überführung von Naturformen in symbolische Ornamentik und Zierrat eine der ältesten kulturellen Praktiken. Eng verbunden mit dem Ornament ist das Ritual, das man als ornamentale Handlung beschreiben könnte. Grundregel des Ornamentalen ist die Reduktion auf ein formales Prinzip (Zeichen oder Geste) in rhythmischer Wiederholung. Thema und Beweggrund im Muster und im Ornament sind nach Wolfgang von Wersin (dt. Architekt, 1882–1976) „die Wiederholung des Gleichartigen und der Ausgleich der Gegensätzlichkeit, wie sie der Mensch in der Natur erlebt.“

Es gibt zahlreiche Beispiele aus der neueren Kunstgeschichte, welche unmittelbar auf die Frage von Ornament und Dekor reagieren. Zu nennen sind die Überlagerungen internationaler folkloristischer Zeichen mit Elementen der Op Art bei Philip Taaffe (*1955). Daneben weisen Sigmar Polkes (1941–2010) amüsierte Aufgriffe von deutschem Wohnraumdekor der 1960er Jahre auf eine sinnentleerte Anhäufung von Zeichen, Symbolen, Muster und Ornament im bürgerlichen Milieu hin. Ebenfalls bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Klassische Moderne, welche auf Einfachheit und Klarheit der Form abzielte. Denn die Vereinfachung der Form auf ihr Wesentliches führt im Bildnerischen wie im Architektonischen zur Schaffung eines Archetyps, also eines Grundmusters. Auch die maximal formreduzierte minimalistische Skulptur kann als Ornament oder als vom Ornament abgeleitet gelesen werden, ordnet sie sich doch einem seriellen Prinzip unter.

Muster und Ornamente stellen, so sieht es Bellaire, obgleich als periphere Erscheinung behandelt, das Zentrum der Kunst dar. Mit dem Holzschnitt begab sich die Künstlerin 2009 erstmals auf die Suche nach den Ursprüngen der ornamentalen Abstraktion und ihrem Weg in die Gegenwartskunst. Inspirationsquelle dieser seriell gehängten, im Holzschnitt polychrom bedruckten Stoffbahnen, sind die traditionellen Blaumodelstoffe des 17. Jahrhunderts. Man sprach vom Schönfärbehandwerk oder der Kunst der Armen. „Muster & Ornament“ (13-teilig, 2009) basiert auf sieben Druckstöcken, welche sich auf den Fahnen in verschiedenster Weise überlagern: Den Anfang bildet ein beliebiges traditionelles Lilienornament, danach befreien sich die Form und der Rhythmus in freien Schwüngen, es folgen ein abstraktes Blumenmuster, grafische Rasterstrukturen, die fließenden Linien des Art Deco, eine schnörkelige Arabeske und schließlich ein archetypisches Zitat der modernen Kunst.

Eine neue Werkreihe von Holzschnitten nennt sich „Herbarium der Petrefakte“ (2012). Welke Rosenranken, Sinnbilder für die Liebe, den Schmerz und das (ewige) Leben, erstarren abstrahiert und ornamental aufbereitet im Druckstock der Künstlerin. Auf 15 Blättern variiert die Künstlerin Kompositionsmuster mit zwei unbearbeiteten Platten. In morbiden Grau-, Braunviolett- und Rosétönen drückt sich die Gleichzeitigkeit von Formzerfall und Formentstehung im Versteinerungsprozess aus. Durch die zunehmende Beimischung von Weiß über die Serie hinweg löst sich das Abbild immer weiter in Licht auf.

In ihrem „Schmetterlingsmusterbuch“ (2010) kombiniert die Künstlerin den Holzdruck mit einer malerischen Geste. Die Reihe spielt mit der Wahrnehmung des Betrachters. In einem Moment scheint ein grafisches Ornament auf, im nächsten Augenblick dominiert der schwarze Pinselschwung. Das Auge sucht nach dem Ordnungsprinzip – die schwarze Freiform vereitelt den Versuch, als entziehe sich ein Falter durch einen flüchtigen Flügelschlag der genaueren Betrachtung.

Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem flüchtigen Moment und der Ewigkeit des natürlichen Zyklus dominiert das gesamte Werk der Künstlerin. Ihre Aufmerksamkeit gilt der Vielzahl an Verhaltens- und Gestaltmustern in der Natur. Hier findet sie eine reiche Inspirationsquelle für eigene Form- und Systementwicklungen. Die künstlerische Handlung selbst wird so zur abstrahierenden, nachahmenden Geste. Das Werk wird zum Ornament.

Birgit Reich